Singen als Mutprobe?
Bereits dreijährige Kinder haben zum Teil große
Hemmungen, allein vor anderen ein Lied vorzusingen. Zu
diesem Ergebnis kommt eine Studie am Institut für
Psychologie der Technischen Universität Braunschweig.
Das zögerliche Verhalten der Kinder beim Singen hebt sich
demnach deutlich von ihrem Umgang mit anderen
Aufgabenarten ab.
Die Forscher vermuten, dass der Grund hierfür selbstbewertende Gefühle wie
Scham, Schüchternheit, Verlegenheit oder Stolz sind. Sie scheinen beim Singen eine
größere Rolle zu spielen als bei anderen Tätigkeiten.
86 Kinder aus zwei Braunschweiger Kindergärten haben seit dem Jahr 2000 an der
Untersuchung teilgenommen, die jetzt abgeschlossen wurde. Dazu wurden zum
einen Drei- und Vierjährige und, in einer anderen Gruppe, Sechsjährige im Rahmen
eines Spiels aufgefordert, unterschiedliche Aufgaben zu lösen. Während
Wissensaufgaben, Sinnesaufgaben mit einer Fühlbox und Bewegungsaufgaben
ohne Schwierigkeiten bewältigt wurden, kamen viele Kinder beim Vorsingen ins
Stocken.
Sprechen und Singen
"Sprechen und Singen haben gemeinsame Wurzeln", betont Prof. Werner Deutsch,
Leiter der Abteilung Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie der TU
Braunschweig. "Zu Beginn der Entwicklung sind beide Ausdrucksformen eng
miteinander verbunden. Während aber fast alle Kinder bis spätestens zum sechsten
Lebensjahr sprechen lernen, wird längst nicht jedes ein guter Sänger oder eine gute
Sängerin. Dabei gehört das Singen zu den besten Fördermaßnahmen, die es für die
Entwicklung der Persönlichkeit gibt. Kinder, die gern singen, trauen sich auch
später in anderen Zusammenhängen eher zu, selbstbewusst ihre Stimme zu
erheben."
Der Text gibt den "Ton" an
Um ein Lied aus dem Gedächtnis zu reproduzieren, nutzten die Kinder in der Studie
vorwiegend sprachliche und weniger musikalische Fertigkeiten. Beim Singen
achteten sie vor allem auf den Text, während die Wiedergabe der Melodie unbewusst
erfolgte. Die Reimstruktur spielte unterdessen bei allen Kindern eine große Rolle:
Wenn sie vom Originaltext abwichen, erhielt der Reim ein stärkeres Gewicht als der
Sinn.
"Wir haben unter anderem aufgezeichnet, wie die Kinder das Lied 'Hopp hopp hopp,
Pferdchen lauf Galopp' vorsangen. Dabei konnten wir feststellen, dass in den
meisten Fällen die Melodie des Liedes mindestens grob erkennbar war. Auch der
Rhythmus wurde in der Regel gut eingehalten. Die Höhe und Gleichmäßigkeit der
Töne dagegen waren häufig unvollkommen", so Grit Sommer, die gemeinsam mit der
Linguistin Dr. Christliebe El Mogharbel die Studie in den Kindergärten durchgeführt hat. "Je älter die Kinder waren, desto besser konnten sie die Lieder vollständig
wiedergeben. Die Situation, alleine in Anwesenheit anderer ein Lied vorzusingen,
stellte für fast alle Kinder eine Herausforderung dar, die oft mit Hemmungen und
Stressanzeichen einhergeht."
Singen fördert die Persönlichkeit
"Das ist bedauerlich, weil Singen eigentlich sehr lustvoll ist", kommentiert Prof.
Deutsch die Ergebnisse. "Nachweislich werden dabei Emotionen erheblich stärker
geweckt als beim Sprechen, diverse Bereiche des Gehirns werden gleichzeitig
aktiviert. Singen macht Sinn, weil es Kinder in vielfacher Hinsicht positiv
beeinflusst."
Daher sollten Eltern, so der Psychologe, zu Hause mit den Kindern bei jeder
Gelegenheit gemeinsam singen. Lieder sollten möglichst nicht nur beiläufig gelernt,
sondern oft wiederholt werden.
Dabei sei es weniger wichtig, wie viele Lieder die Kinder singen können. Auch sollten
die Eltern nicht korrigieren, wenn der Text nicht in Ordnung ist. "Es ist wichtig", so
das Fazit von Deutsch, "dass in der aktuellen Bildungsdebatte die emotionale
Entwicklung der Kinder, wie sie beispielsweise durch das Singen gefördert wird, nicht
zu kurz kommt."
Quelle: IDW / Technische Universität Braunschweig