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Musik hilft und heilt


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Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt, Lehrstuhlinhaber für Musiktherapie und Direktor des Instituts für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg

Musik wirkt. Mediziner beginnen nun, sie als Heilmittel einzusetzen. Wie das aussieht und welche Folgen das für unser Gesundheitssystem haben könnte, erläutert Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt im Interview mit Peter Carstens, Redakteur bei GEO.de. 

"Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung", notierte der Dichter Novalis. - Keine reine Spekulation, meinen heutige Musiktherapeuten. "Es gibt keinen Bereich mehr im ganzen Lebenskreis des Menschen, in dem wir nicht die Ergebnisse der Forschung zur Musiktherapie anwenden können", so Prof. Decker-Voigt, Leiter des Instituts für Musiktherapie in Hamburg und Präsident der Akademie für musiktherapeutische Weiterbildung der Karajan-Stiftung, Berlin. In Deutschland gibt es mittlerweile acht Studiengänge für Musiktherapie. Den Anfang machte vor 29 Jahren die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. 

Peter Carstens: Woher kommt die Macht der Musik? 

Prof. Decker-Voigt: Schon im Mutterleib erleben wir alle Elemente der Musik: Rhythmus, Dynamik, Klang, Melodie und Form. Das prägt uns lebenslang. Zum Beispiel die mütterliche Herz-Rhythmus-Figur hören wir ja 26 bis 28 Millionen Mal. Der Embryo und dann der Fetus erlebt Rhythmus und Tempo, den Wechsel von langsam und schnell, erlebt unterschiedliche Dynamik, also die Kraft der Töne: Es ist ja richtig laut im Mutterleib: 92, 95 Dezibel. In den letzten Monaten der Schwangerschaft erlebt das Kind dann die Sing- und die Sprechstimme der Mutter. Danach beginnt bis zur Sprachschranke, zirka am Ende des zweiten Lebensjahres, etwas, wovon ich immer wieder neu fasziniert bin: Die gesamte hörbare Kommunikation vollzieht sich auf einer elementar musikalischen Ebene: Zwischen Mutter und Kind, zwischen Vater und Kind und allen sozialen Partnern des aufwachsenden Säuglings wird die gesamte Bandbreite der primären Gefühlsentwicklung wie Zorn, Ekel, Freude, Angst, stimmlich ausgedrückt - und stimmlich beantwortet. Die Sprache unserer Eltern verstehen wir nicht - aber wir verstehen die Musik darin und damit die Stimmungen, die sich in dieser Sprache artikulieren: Wir wachsen musikalisch auf. Und das nutzt die entwicklungspsychologisch verstandene Musiktherapie als Ressource. 

Carstens: Welche Funktion übernimmt die Musik in der Musiktherapie? 

Decker-Voigt: In der psychotherapeutischen Musiktherapie kann das so aussehen: Ein Krebs-Patient wird vom Musiktherapeuten eingeladen zu improvisieren zum Thema "Mein Krebs". Dann drückt er mit den ihm zur Verfügung stehenden Instrumenten (vertraute oder häufiger ganz unbekannte aus anderen Kulturkreisen) seinen Krebs musikalisch aus: Die Angst vor ihm, die Hoffnung auf Heilung, auf eine Rückkehr in ein normales, aber auch ganz anderes, bewussteres Leben. In der unvorhersehbaren Musik - denn das meint das Lateinische "Im-pro-visation" - wird der Umgang mit Neuem geübt. Denn Leben mit einer tödlichen Krankheit heißt: Umgang mit Neuem üben. All das heißt, dass dieser Patient aktiv seinen Krebs gestaltet und ihm nicht passiv ausgesetzt ist. In dem Augenblick, wo Kunst dem Patienten als Gestaltungsmittel zur Verfügung gestellt wird, gestaltet der Patient seine Krankheit aktiv. Das hat eine Unmenge an positiven Auswirkungen, da wachsen enorme Ressourcen heran, sodass sich der Krebs zum Teil real verändert. Wir haben hoffnungslose Fälle erlebt, in denen der Krebs medizinisch nicht erklärbar zurückging. Ein anderes Beispiel: Die Arbeit mit Angehörigen hirnverletzter Patienten. Diese in der verbalen Kommunikation verzweifelnden Angehörigen, die selbst therapiebedürftig sind, begreifen, dass sie durch die Musik ein neues Kommunikationssystem mit ihren Angehörigen aufbauen können. Und dann sitzen da Menschen, zu zweit und zu dritt, angeleitet durch den Therapeuten, und tauschen sich wieder aus - auf der ihnen wichtigsten Ebene, der Gefühlsebene. 

Oder ein Blick in die Arbeit mit Komapatienten: Viele von ihnen zeigen über Monate nur winzige Reaktionssignale, leben dann aber tatsächlich noch in eine Phase hinein, in der sie sich wieder neu mitteilen, austauschen können. Wir stellen dann fest, dass das Speicherzentrum dieses Patienten ganz enorme Erinnerungen an die musikalische Kommunikation während des Komas hat. Immer vor dem Hintergrund unserer frühesten Prägung. 

Ein ganz anderes Beispiel sind die Auswirkungen in der Heimerziehung. Dort werden mit dem Medium der Musik in kleinen Gruppen schwer erziehbarer oder lernbehinderter oder psychisch-emotional behinderter Jugendlicher enorme soziale Ressourcen hervorgerufen. Ebenso spektakulär sind die Erfolge mit Demenzkranken und Alzheimer-Patienten. 

"Mit entspannender Musik können Anästhetika bei Operationen bis zu 70 Prozent reduziert werden." 

Carstens: 
Was kann die Musik auf der körperlichen Ebene bewirken? 

Decker-Voigt: Musik, die ich höre, vorausgesetzt, ich kann sie positiv besetzen, löst Beta-Endorphine aus, und das führt zur Senkung des Grundumsatzes, zum Herstellen der Schlafbereitschaft usw. In der rezeptiven Musiktherapie arbeiten wir so: Wenn die Körperantworten auf eine Musik diese Reaktionsmuster hervorrufen, dann ist diese Musik geeignet für diesen Patienten, um ihn zum Beispiel in einen Abspannungs- und Ruhe-Zustand zu versetzen, oder ihn zu aktivieren und zu vitalisieren. Diese Wirkungen werden vor allem in der Schmerztherapie genutzt: Wir können die gegebenen Anästhetika um bis zu 70 Prozent absenken - nur durch die Trancewirkung, die die Musik auf den Patienten hat. Dazu wird in den mir bekannten Kliniken individuell die musikalische Sozialisation erfragt: "Was haben Sie für positive Erinnerungen an Musikstücke, welche Musik lehnen Sie ab?" Ich frage meine Patienten: "Mit welcher Musik verbinden Sie einen entspannten oder einen vitalisierten Zustand?" Wenn der Patient antwortet, setzt bereits ein Teil der Wirkung ein, nur durch die autosuggestive Komponente. 

Carstens: Was halten Sie von "Musikpharmazie"? 

Decker-Voigt: Die Musiktherapie arbeitet streng individualisierend. Von allen Verfahren, bei denen eine Musik bei drei Leuten gleichzeitig dieselben Wirkungen provozieren soll, halte ich wenig. Wir können natürlich zählen, wie viele reagieren auf Heinos "Blau, blau, blau blüht der Enzian", wie viele reagieren auf den Andante-Satz eines Barockkonzertes und so weiter. Aber aus der therapeutischen Sicht lehne ich alles Kollektivierende ab. Wie wichtig das ist, sehen Sie daran, dass sich die Musikmedizin inzwischen auch der Individualisierung bedient. Es gibt keine seriösen Musikmediziner mehr, die behaupten: Diese Musik, die wird das und das bei Ihnen ganz bestimmt bewirken, wie eine Tablette. Es gibt wohl "musikalische Hausapotheken" mit der Empfehlung: Die bewirkt bei Ihnen das und jene dies - aber dahinter stehen mehr Zählwerke, wie viele Menschen ähnliche Reaktionen zeigen. Nicht aber der einzelne Mensch, als der der Patient gesehen werden sollte. 

Carstens: Woher kommt die Aktualität der Musiktherapie? 

Decker-Voigt: An den meisten Universitäten des Mittelalters war die Medizinerausbildung an eine sehr gute Kenntnis und Studien der Musik gebunden. Denn damals, vor den Zeiten der naturwissenschaftlichen Schulmedizin, war die Ärzteschaft viel mehr geprägt von den Heilpriestern des Frühmittelalters und vormedizingeschichtlichen, also schamanistischen Praktiken. In dieser langen Traditionslinie haben sich zwar ständig neue Methoden entwickelt, aber bis zum Hochmittelalter blieb als ärztliche Position eine ganzheitliche Sicht auf den Patienten, als Einheit von Leib, Seele und Geist. Außerdem gab es schon damals viele Untersuchungen über die Auswirkungen von Musikhören auf die Patienten. Hier in Europa war Musiktherapie in früheren Epochen eine überwiegend rezeptive. Wir müssen Europa schon verlassen, um auch aktive Musiktherapie, etwa in schamanistischen Traditionen außerhalb Europas, kennen zu lernen. Heute haben wir eine Medizinentwicklung, die atemberaubend schnell ist. Und ein Mediziner ist heute dazu verdonnert, eine immer spezialisiertere Fachmedizin zu praktizieren, weg also vom ganzheitlichen Denken. Und er muss immer mehr Patienten behandeln. Die Schulmedizin beginnt nun, sich gegenüber der Psychotherapie und damit auch gegenüber den künstlerischen Therapien zu öffnen. Und das verdanken wir der Einsicht: Wir kommen allein mit der High-Tech-Medizin nicht mehr an die Persönlichkeit des Patienten heran. 

Carstens: Hat Musik in unserer Gesellschaft, besonders in der Schule, den richtigen Stellenwert? 

Decker-Voigt: Die Beschäftigung mit Musik, vor allem auch mit einem begeisterungsfähigen und motivierenden Schulmusiker, hat eine eindeutig präventive Auswirkung auf die Schüler. Aber doch nicht in "Massenklassen"! Ich höre sogar von einer anthroposophischen Schule, die eigentlich für mich Modellcharakter hat, dass die Musiklehrerin mit 37 Schülern in einer Klasse arbeiten muss. Meine Frau hat das Fach Musik an der Grund- und Hauptschule. Sie sagt: Begeisterungsfähigkeit überall - aber bei 28, 30 Schülern überschreite ich die Grenzen der musikalischen Sensibilität des einzelnen. 

"Auch in der Musiktherapie gilt: Entscheidend für den Erfolg der Therapie ist eine gute Beziehung zum Therapeuten ." 

Carstens: Können die künstlerischen Therapien das Gesundheitswesen sanieren? 

Decker-Voigt: Nicht das Gesundheitswesen in seiner Gänze, aber den einzelnen Menschen, da bin ich sicher. Die Forschungsergebnisse, die zum Beispiel in Dissertationen veröffentlicht werden, landen aber einfach nicht auf dem richtigen Schreibtisch, nämlich auf dem der Gesundheitspolitiker. Ich habe auch den Eindruck, dass die Gesundheitspolitik ein so desaströses Tempo hat, dass sie sich das Innehalten nicht leisten kann, um zu schauen, wo eigentlich komplementäre Möglichkeiten liegen. Und Komplementärmedizin schließt die künstlerischen (Psycho-)Therapien ein. Heute konsumieren wir Musik in einer nie dagewesenen Größenordnung. Die Sehnsucht nach Musik besteht. Aber nicht mehr auf der aktiven Seite. Dabei ist ein Mensch gesünder, wenn er Musik macht. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass zwar nicht der Intelligenzquotient gehoben werden kann mit musikalischer Beschäftigung - aber die Kreativität dem Lernstoff gegenüber, die Geschwindigkeit des Lernens. Die Interdisziplinarität von Schulfächern wird viel besser und schneller erfasst von einem musizierenden Menschen. Und irgendwann wäre einmal der Sprung in die Gesundheitspolitik nötig: Wir gucken da ständig auf eine Orchidee namens Musiktherapie - und nutzen sie zu wenig. 

Carstens: Ist der Boom der Musiktherapie ein Hinweis auf ein verändertes Medizin-Verständnis? 

Decker-Voigt: Wir leben in dem Irrtum, zu glauben, dass es uns immer dann psychisch hervorragend geht, wenn es uns physisch hervorragend geht. Denn die psychische Beeinflussung unserer Gesundheit ist wesentlich größer als die physische. Ich kenne eine ganze Reihe Patienten und Patientinnen, die auch mit chronischen Erkrankungen ein erfülltes, glückliches Leben führen. Andere dagegen sind körperlich topfit, leben aber in einer völligen Schräglage ihres sozialen Netzes, ihres Arbeitslebens, ihrer Familienstruktur. Die Gesellschaft der Gegenwart und der Zukunft wird für Gesundheit und Ökologie so viel Geld aufbringen wie noch nie zuvor. Und auch der einzelne Mensch muss mehr Geld für seine Gesundheit bezahlen - und er tut er es auch, und zwar immer mehr freiwillig. Das ist die Marktnische, in die die künstlerischen Therapien hineinkommen, die von den Ärzten aus dem Bewusstsein ihres eigenen Ungenügens empfohlen werden. 

Autor: Peter Carstens 


Professor Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt 
ist 1945 geboren und wuchs in einem Celler Pfarrhaus auf. Nach dem Studium der Musik, Musikpädagogik und Pädagogik in Deutschland sowie der Ausdrucks- und Musiktherapie in den USA, wo er in Psychologie promovierte, übt er heute folgende Ämter aus: 

- Direktor des Instituts für Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg 
- Präsident der Akademie für Weiterbildung in künstlerischen Psychotherapieformen der Herbert von Karajan - Stiftung Berlin 
- Mitbegründer und Senatsmitglied der Europäischen Hochschule für Berufstätige (EHB) in Leuk/Schweiz. 

Neben seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher und belletristischer Autor und Kolumnist gibt Decker-Voigt folgende Periodika heraus: 
- Therapie und Erziehung durch Musik, Buchreihe bei Eres Editition, Lilienthal seit 1975 
- Musik und Kommunikation, Buchreihe bei Eres Edition, Lilienthal seit 1987 
- ENERGON - Musik und Gesundsein, CD- und Handbuchreihe 
Energon - Selbsthilfeprogramme mit Musik für: Herz-Kreislauf, Verspannungsschmerz, Tinnitis, Einschlafstörungen, Streßbewältigung, 
Vitalisierung beim Älterwerden, Polymedia/Universal, Hamburg seit 1998 (zus. mit Prof. Dr.med. Ralph Spintge) 

Die längste Tätigkeit ist die Arbeit in literarischen Formen von Kolumnen, Erzählungen und Romanen. Decker-Voigt ist Gründungsmitglied des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS).Sein publizistisches Schaffen ist dabei nicht nur den Lesern seiner Kolumne in der Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide, Uelzen, sondern durch die Übersetzung in weitere Sprachen zunehmend auch international vielen Menschen bekannt.
 

 Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt 
 Hans-Helmut Decker-Voigt Archiv e.V. 

Quelle: GEO.de 

97993 Creglingen - Reinsbronn