Mehr als schöne Töne
Sängerinnen im Gospel-Chor: Singen stärkt das
Gemeinschaftsgefühl und lässt den Körper
Glückshormone ausschütten
Singen ist mehr als Zeitvertreib, glauben
Musikwissenschaftler: Es lässt Männer besonders attraktiv wirken und hilft
Frauen, mit ihren Babys zu kommunizieren. Und nicht nur das: Singen sorgt für
denselben Kick wie Sex.
Man mag es kaum für möglich halten, wenn man die schaurigen Gesangsversuche
mancher Menschen im Ohr hat: Singen, so glauben Forscher, ist für die Menschheit
nicht etwa ein bloßer Zeitvertreib. Vielmehr war Musik ihrer Ansicht nach für die
frühen Menschen ein Vorteil beim Kampf ums Überleben - und damit einer der
Faktoren, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind.
Erst singen, dann sprechen
Wie wichtig Musik für die Menschheit ist, zeigt schon die Tatsache, dass es sie
überhaupt gibt. "Was keinen Nutzen bringt, wird im Laufe der Evolution gnadenlos
ausgemerzt", bringt es der Musikwissenschaftler Eckart Altenmüller gegenüber der
Zeitschrift "bild der wissenschaft" auf den Punkt. Doch was ist es, was die Menschen
schon in der Jungsteinzeit dazu brachte, auf Knochenflöten harmonische Töne zu
erzeugen und - wahrscheinlich sogar noch früher - ihren Stimmbändern Melodien zu
entlocken?
Denn singen konnten die Vorfahren von Homo sapiens nach Ansicht vieler Forscher
schon, bevor sie sprechen konnten. Sonst ließe sich nicht erklären, dass die
menschliche Stimme viel mehr kann, als sie beim Sprechen benötigt. So ist sie in der
Lage, Töne zu erzeugen, die drei Oktaven abdecken - obwohl für die Sprache
lediglich eine Quinte, also etwas mehr als die Hälfte einer Oktave, ausreichen würde.
Auch die Fähigkeit, Töne lange zu halten, ist beim Sprechen nicht gefragt.
Die Wahrnehmung von Musik scheint ebenfalls biologisch vorgesehen zu sein. So
müssen kleine Kinder beispielsweise nicht erst lernen, welche Klänge harmonisch
sind und welche nicht, sie wissen es instinktiv. Außerdem erfassen sie die
musikalischen Anteile von Sprache früher als ihre Bedeutung. "Was die Mutter oder
der Vater sagt, nehmen Babys zunächst als melodischen Lautstrom wahr", erklärt
Altenmüller. Das spiegelt sich auch im Gehirn wider, denn dort werden Sprache und
Musik von den gleichen Hirnregionen bearbeitet.
Frauen stehen auf Musiker
Welchen Vorteil die Musik den frühen Menschen, genauer gesagt den Männern,
brachte, kann man heute noch erahnen - dann nämlich, wenn man sich die
kreischenden Fans von Tokio Hotel oder Robbie Williams anschaut: Musiker sind für Frauen extrem attraktiv und waren es wahrscheinlich schon in der Steinzeit, auch
wenn die Sänger damals garantiert keine Millionensummen verdienten.
Sänger Robbie Williams: "Seht her! Ich bin so stark und gesund,
dass ich Kraft genug habe, um so sinnlose Dinge zu tun wie zu
singen"
In den Zeiten, in denen es ums nackte Überleben ging, zeigte der
Gesang den Frauen etwas anderes: "Seht her! Ich bin so stark
und gesund, dass mir selbst diese widrigen Bedingungen nichts
ausmachen und ich noch Kraft genug habe, um so sinnlose Dinge
zu tun wie zu singen." Gleichzeitig, spekulieren die Forscher,
demonstrierten sie ihre Kreativität und damit auch ihre geistigen
Fähigkeiten. Singende Männer hatten also alles, was sich eine Frau nur wünschen
konnte - und waren daher begehrte Partner.
Singen baut Babystress ab
Für die Frauen hatte das Singen wahrscheinlich eine vollkommen andere Funktion,
glauben die Wissenschaftler: Es diente der Kommunikation mit ihren Kindern. "Wenn
Mütter mit ihren Babys reden, ist die Stimme höher, erstreckt sich insgesamt über
einen größeren Frequenzbereich. Das Tempo ist langsamer, und die Sprachmelodie
wird übertrieben. All das macht man beim Singen auch", erklärt Altenmüller.
Besonders wichtig war diese Kommunikation, wenn die Frauen ihren Nachwuchs
beruhigen mussten, ohne ihn berühren zu können.
Das funktioniert tatsächlich, konnte die kanadische Psychologin Sandra Trehub
zeigen: Wenn Babys etwas vorgesungen bekommen, sinken ihre
Stresshormonspiegel und bleiben zudem deutlich länger auf dem niedrigen Niveau,
als wenn die Mütter lediglich reden. Zunutze machen sich das Eltern auf der ganzen
Welt, indem sie ihren Kindern Wiegenlieder vorsingen - die laut "bild der
wissenschaft" interessanterweise überall ähnlich klingen und demnach
wahrscheinlich schon sehr früh in der Geschichte der Menschheit entstanden.
Glücksgefühle wie Essen oder Sex
Noch wesentlicher für den evolutionären Erfolg von Musik könnte allerdings eine
andere Eigenschaft gewesen sein: "Musik ist immer etwas Gemeinschaftliches, und
gemeinschaftliche Aktivitäten stärken den Zusammenhalt einer Gruppe", beschreibt
es Eckart Altenmüller. Singen beispielsweise sorge dafür, dass sich Menschen
"emotional synchronisieren" - eine unverzichtbare Voraussetzung für gemeinsames
Handeln, das wiederum unabdingbar für das Überleben in schweren Zeiten war.
Damit das nicht in Vergessenheit geriet, hat die Natur zusätzlich noch für einen
besonderen Kick gesorgt: Musik stimuliert das Belohnungszentrum und löst dadurch
Glücksgefühle aus, ähnlich wie Essen oder Sex. Das beruhigt, bringt die Emotionen
ins Gleichgewicht und tut zusätzlich noch dem Körper gut. Altenmüllers Fazit lautet
daher: "Der Körper verschafft uns durch die Aktivierung des Belohnungssytems
einen Anreiz, uns wichtige Dinge zu besorgen - Musik ist demnach wichtig."
Ilka Lehnen-Beyel/DDP
© Mate Nandorfi/AP