Gesund, glücklich und vital durch Singen
Die Wiederentdeckung eines Gesundheitserregers
„Wer schon des Morgens dreimal schmunzelt, des Mittags nicht die Stirne runzelt und
abends singt, dass laut es schallt, wird hundertzwanzig Jahre alt“. (Volksmund) Das hört
sich ja nun wirklich an wie aus lange vergangenen Tagen. Doch enthält die Botschaft
auch noch eine Wahrheit für uns heute? Eindeutig ja! Denn die Aktivierung der Vitalkräfte
durch Singen funktioniert natürlicherweise im Prinzip heute noch genauso gut wie früher.
Singen ist neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge für den Menschen
wichtiger, als man bisher annahm. Es erfüllt unersetzbare Lebensfunktionen. Singen
gehört zur Natur des Menschen. Wem das Singen verloren gegangen ist oder wer es nie
für sich als Ausdrucksform entwickeln konnte, der ist in seiner natürlichen
Lebensentfaltung behindert. Leider laufen heute viele Lebensverhältnisse gegen die Natur
des Menschen und führen in der Summe zu den verschiedensten Krankheiten. Doch jeder
kann auch negativen Entwicklungen entgegenwirken und selbstverantwortlich gestalten.
Entdecken Sie das Singen in seiner lebensfördernden und heilsamen Funktion für sich
ganz neu und stimmen Sie Ihr Leben auf Lebensfreude `trotz alledem´ und
Selbstverantwortung `gerade deswegen´ ein.
Wer singt, lebt besser und länger
Es ist nicht übertrieben: Singen ist gesund, macht glücklich und vital. Allerdings muss
man sich den Zugang zum Singen erwerben. Singen als Sprache des Herzens entfaltet
sich wie das Sprechen von frühester Kindheit an durch das ständige Tun. Aber wer hat es
heutzutage in unserem Land noch gelernt, sich zum Beispiel aus einer schlechten
Stimmung in eine gute zu singen? Oder die Trauer um einen verstorbenen Menschen
singend zu verarbeiten? Oder sich Stress oder Wut von der Seele zu singen? Oder, oder,
oder. Die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Wer das kann, hat immer einen Joker für
alle Lebenslagen. Können Sie diese Fragen mit Ja beantworten? Dann gehören Sie zu
einer kleinen Minderheit mit einem großen Vorteil. Viele Sklaven hätten wahrscheinlich
auf den Baumwollfeldern nicht überlebt, wenn sie nicht die stärkende Kraft ihrer Gesänge
gehabt hätten. Das erzählen auch Überlebende der Konzentrationslager. Denn man kann
den Untersuchungen zufolge erheblich mehr physische und psychische Ressourcen
mobilisieren, wenn man singt. Wer viel singt, lebt im Durchschnitt länger und besser. –
Wahrscheinlicher aber gehören Sie zur Mehrheit der Nichtsinger, die zwar eigentlich
gerne singen, sich aber schämen oder andere Gründe haben, warum Sie es tatsächlich so
gut wie nie tun. `Der Spiegel´ titelte am 25. Dezember 2000 "Das Jaulen der
Trauerklöße. Die Deutschen verlernen das Singen". Das stimmt. Durch den Missbrauch
des Singens in der Naziära ist es seit der Nachkriegszeit im Alltag der meisten Deutschen
weitgehend verstummt. Die meisten von uns lassen stellvertretend noch die Stars für
sich singen. Shakespeare soll dereinst sinngemäß gesagt haben: „Einem Mann, der keine
Freude am Singen hat, kann man nicht trauen. Der ist zu allem fähig.“ In dieser Aussage
steckt viel Wahrheit, und sie kann uns zum Nachdenken anregen, aber sie ist nicht
wörtlich auf heute zu übertragen. Denn zu Shakespeares Zeiten gehörte das Singen zum
Alltag, und jeder lernte es von Kindesbeinen an. Heute jedoch wissen Eltern doch kaum
noch, ihre Kinder in den Schlaf zu singen, weil sie selbst nie in den Schlaf gesungen
wurden. Statt dessen werden unbedacht immer häufiger Schlaftabletten und
Psychopharmaka an Kleinkinder verabreicht, und die Folgen sind kaum einzuschätzen. Kinde, die singen, lernen besser
In Bezug auf das Singen leben wir in einer kulturellen Wüste im Vergleich zu anderen
Industrieländern wie zum Beispiel Finnland, dessen Schüler in der internationalen PisaStudie am besten abschnitten. Die Deutschen Schüler waren bei den Schlusslichtern. Die
guten Leistungen haben sicherlich auch mit der lebendigen Singkultur in Finnland zu tun.
Denn Kinder, die viel singen, lernen auch besser und können kreativer mit dem Gelernten
umgehen, sind also lebenstüchtiger. Nicht umsonst sagte Yehudi Menuhin: „Das Singen
ist die eigentliche Muttersprache aller Menschen: denn sie ist die natürlichste Weise, in
der wir ungeteilt da sind und uns ganz mitteilen können – mit all unseren Erfahrungen,
Empfindungen und Hoffnungen.“
Der Verfall der Singkultur ist sehr bedenklich, wenn man an die Auswirkungen denkt. Sie
sind nur wenigen wirklich bewusst, weil die neuesten Forschungsergebnisse so langsam
in die Gesellschaft sickern und zu praktischen Konsequenzen führen. Aber wo das Singen
aus dem Alltag verschwindet, werden die Menschen krank und die Gesellschaft erkaltet,
auch wenn das selbstverständlich nicht der einzige Grund ist. Singen erfüllt eben
unersetzbare Lebensfunktionen und gehört zum gesunden Menschen dazu. Singen fördert
zum Beispiel neben der Intelligenz auch die Belastbarkeit und die sozialen Fähigkeiten.
Im umfassendsten Sinne ist Singen ein „Gesundheitserreger“. Ob Sie an einer
chronischen Krankheit leiden oder sich grundsätzlich gesund fühlen, ob Sie jung sind
oder alt: Singen fördert immer Ihre Gesundheit und Lebensqualität und ist so im besten
und umfassenden Sinne auch Krankheitsprävention. Denn es aktiviert neben allem
anderen die Vitalkräfte und schafft seelischen Ausgleich. Singen ist die Sprache der
Seele. Wer gelernt hat, aus Herz und Seele zu singen, kommt zum Beispiel weniger in
Gefahr, an seinen negativen Gefühlen, deren Bewältigung nun mal zum Leben
dazugehört, zu „ersticken“ und psychosomatische Krankheitssymptome zu entwickeln.
Wer das Singen hat, der kann sein Leben besser bewältigen als ohne diese Fähigkeit. In
fast allen Kulturen wurde oder wird noch das Singen bewusst so genutzt, und wir kennen
es alle beim Blues oder Gospel.
Singen kann jeder
Auch Sie können durch Singen Ihre Lebensqualität verbessern, selbst wenn Sie an einer
vielleicht sogar chronischen Krankheit leiden. Als Musikpsychologe und Sänger konnte ich
mit über tausend Versuchspersonen in umfangreichen empirischen Untersuchungen am
Psychologischen Institut der Universität Münster diese gesundheitsfördernden Wirkungen
des Singens nachweisen (Karl Adamek, Singen als Lebenshilfe, Waxmann Verlag Münster 1996).
Wer viel singt, aktiviert dadurch auch seine „körpereigene Hausapotheke“. Die
verschiedenen Drüsen des Körpers schütten beim Singen eine große Anzahl von
gesundheitsfördernden Substanzen aus, unter anderem zum Beispiel sogenannte
Glückshormone. Das geschieht nicht nur durch die vertiefte Atmung und Aktivierung des
Zwerchfells beim Singen. Die Lebenskräfte werden auch aktiviert, indem die feinen
Schwingungen beim Singen den ganzen Körper und besonders das Gehirn durchfluten
und so die Durchblutung und den Stoffwechsel anregen. Wie intensiv diese
Schwingungen sind, davon können Sie sich sofort selbst überzeugen: Summen Sie
einfach einmal auf dem Laut N einen lang anhaltenden Ton. Legen Sie also die Zunge an
die oberen Schneidezähne, so dass die Luft nur durch die Nase entweicht. Zugleich legen
Sie eine Hand auf den Kopf. Das ist doch erstaunlich, oder? Können Sie sich vorstellen,
was im Gehirn wohl alles passiert, wenn es eine längere Zeit derart in körpereigene
Schwingung versetzt wird? Und alles Gesagte ist nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was
beim Singen alles zum Wohle des Singenden geschieht. Um diese Effekte zu erreichen,
brauchen Sie beileibe nicht die Callas oder Pavarotti zu sein. Es geht hierbei überhaupt
nicht um Leistung. Es geht vielmehr um ein Singen als Selbstzweck zu Ihrer eigenen
Freude. Vielleicht spüren auch Sie Lust, diese wertvolle Ressource Singen wieder mehr
für ein gesundes und glückliches Leben zu entdecken. Übrigens: den Zugang zum Singen aus reinem Spaß an der Freude können Sie in jedem Alter lernen und weiter entfalten.
Also: Singen Sie unter der Dusche, in der Badewanne oder im Auto. „Drückt´s dich wo,
sing dich froh“ (Volksmund)
Dr. Karl Adamek